Verloren?

A

Astarte

Guest
Hallo an alle,

in den letzten Tagen verzeichnete ich einen ebenso überraschenden wie zweifelhaften Erkenntnisgewinn, da mir unverhofft und sehr drastisch meine Dauer-Krise gegenübertrat. Hat jemand von Euch Erfahrung mit dem Thema? Wenn ja, wie geht Ihr damit um?

Am Morgen des 28.06.2005 wachte ich um 6.00 Uhr in der Früh auf. Das war schon ungewöhnlich genug, pflegte ich doch sonst bis 8 oder gar 9.00 Uhr auszuschlafen. Doch noch bemerkenswerter war der Traum, der mir ob der langen Aufwachphase im Gedächtnis geblieben war.
Es war kein angenehmer Traum, konfrontierte er mich doch schonungslos mit der Gefahr und mit der Lust am Untergang. Kurz gesagt: es ging um eine aberwitzige Verfolgungsjagd. Das Szenario hatte etwas vom Fantasy-Live-Rollenspiel, wirkte aber auch real. Nach einem bewaffneten Angriff, der unserer ganzen Gruppe galt, floh ich vor einem der Angreifer, dessen Zorn ich mir zugezogen, indem ich ihm seine Armbrust weggenommen und ihm obendrein noch einen Tritt verpaßt hatte. Es handelte sich um einen kleinen blonden Jungen, 6 oder 7 Jahre, der etwas Zombiges an sich hatte. Hartnäckig blieb er mir auf den Fersen. Die Jagd ging quer durch den Wald und über einen belebten Strand. Immer, wenn ich glaubte, ihn abgeschüttelt zu haben, holte er mich wieder ein. Einmal wandte ich mich um, schoß mit der Armbrust nach ihm und verfehlte ihn. In einem Anfall von schlechtem Gewissen (die Waffe gehörte ja dem „NSC“) warf ich die Armbrust weg und rannte weiter. Es wurde dunkel, es wurde Nacht. In den beleuchteten Straßen einer Siedlung kam mir eine Gruppe singender und blumenbekränzter Jungfrauen entgegen. Unter ihnen auch C. S., eine Freundin. Ich eilte an ihnen vorbei, in der Hoffnung, sie mögen meinen Verfolger aufhalten. Das taten sie auch, aber auch das hielt das Unheil nur für kurze Zeit auf. Schließlich war ich des Weglaufens müde und drehte mich zu meinem Feinde um, ohne einen Plan, was nun zu tun sei. Er streckte mich mit dem Kurzschwert gnadenlos nieder. Auch die Rechnung, wenn ich am Boden liege, ließe er von mir ab, ging leider nicht auf; mit sichtlichem Triumph bohrte er seine Klinge in meinen Hals und versetzte mir so den Todesstoß. Im Sterben empfand ich Bedauern, aber auch einen gewissen Genuß und Erleichterung. Ich bekam noch mit, wie C.S. zu mir eilte und um mich trauerte.

Welche Scham, welche Schmach! Warum kam ich nicht auf die Idee, mir eine Waffe zu suchen und diesem Rotzlöffel den Garaus zu machen? Warum gab ich am Ende so willenlos auf und ließ mich quasi abschlachten? Warum rannte ich vorher die ganze Zeit davon? Besser: wovor rannte ich eigentlich davon? Was symbolisierte dieser Kinder-Zombie?
Soetwas wie das innere Kind, wie mein Gefährte traumdeutenderweise vermutet? Geht von ihm eine Gefahr aus, die, wenn ich nicht dagegen vorgehe (und zwar effektiv und nicht bloß irgendwie), mich zur Strecke bringen kann?

Ach ja, das liebe innere Kind! Das hat mir gerade noch gefehlt. Was fällt ihm eigentlich ein, mich derart zu behelligen? Ich brauche es nicht, ich will es auch nicht bemuttern und liebhaben und trösten und diesen ganzen Quatsch, den man immer in den Lehrbüchern liest und von Leuten, die auf Psycho-Seminaren waren, eingetrichtert bekommt. Zum Henker mit ihm! Wenn es schon zum Zombie mutiert ist und mir nach dem Leben trachtet, dann kann es auch gerne selber verrecken. Warum sollte ich Mitleid mit ihm haben, mit diesem quengelnden und quakenden Etwas, das mir nur zusetzt? Wenn es einen Weg gibt, ihn zu eliminieren, dann werde ich das tun.

Als ich den Traum in mein Traumtagebuch notierte, bemerkte ich wieder deutlich, was mich in den letzten Tagen - nicht zum erstenmal, aber nun mit erschreckender Klarheit - beschäftigte: das Gefühl, verloren zu sein. Nicht hierher zu gehören, nichts zu haben, was mich wirklich in dieser Welt hält. Objektiv betrachtet ist diese Behauptung unhaltbar. Es mangelt mir an nichts, ich lebe in einer gelungenen Beziehung, ich gehöre zu denen, mit denen das Leben es gut meint und die fast alles erreichen, was sie wollen. Aber tief in mir, da sieht es anders aus, da ist es, als ob ein Anker fehlte, ein Halt, eine Sicherheit, die mir meine Zugehörigkeit im Leben weist. In WALTER MOERS’ „Die Stadt der Träumenden Bücher“ las ich einmal folgendes: „Von den Sternen kommen wir, zu den Sternen gehen wir; das Leben ist nur eine Reise in die Fremde.“ Wie tief fühlte ich mich von diesem Zitat angesprochen. Fremd bin ich überall, nur auf der Durchreise; warum sollte ich mich hier also lange aufhalten?

Es ist ja nicht so, daß mich dieses Phänomen völlig überrascht. Fluchtgedanken, Suizid- und Todesphantasien kamen immer wieder mal, besonders dann, wenn ich ob einer Sache – in den letzten Jahren vorwiegend die Dissertation, die unselige Aufschieberei der Arbeit an derselben, Schlafstörungen – wieder einmal völlig rat- und mutlos war. Ich habe mich daran gewöhnt, ja, bisweilen sogar in einer gewissen Grandiosität der eigenen Tragik geschwelgt: eines Tages würde ich erhobenen Hauptes aus dem Leben gehen, stolz und überzeugt wie ein Rebell zu seiner Hinrichtung, wie ein Terrorist im Anflug auf das World-Trade-Center, und diesen Zeitpunkt würde ich alleine bestimmen und kein anderer. (Nur auf die Einkehr ins Paradies und Gottes Herrlichkeit würde ich nicht spekulieren, der könnte mir nämlich genauso gestohlen bleiben wie der Rest der Welt.) Stand ich zwischendurch wieder mehr im Leben, dann tat ich solche Phantasien als lächerlich ab, brachte sie in unmittelbaren Zusammenhang mit den genannten Schwierigkeiten, mit deren Bewältigung sich auch meine ganzen Neurosen in Schall und Rauch auflösen würden.

Daß ich vielleicht ein grundlegendes Defizit haben könnte, daß ich, völlig unabhängig davon, ob ich meine Doktorarbeit schaffe oder nicht (ich bin sicher, daß ich sie schaffen werde), ob ich Professor, Künstler, Buchautor oder sonstwas würde, immer wieder die gleichen Schwierigkeiten haben würde: mit mangelnder Selbstakzeptanz, mit fehlender Arbeitsdisziplin, mit durch jahrzehntelang eingeschliffene Denk- und Verhaltensmuster gezüchtete Neurosen; daß all die genannten Schwierigkeiten vielleicht Ausdruck eines viel tiefer liegenden Problems sein könnten, diese Erkenntnis traf mich mit voller Wucht. Dazu muß ich noch einmal etwas ausholen.

Vor 3 Wochen hatte ich einen Termin bei meiner Psycho-Kinesiologin. Zu dem Zweck, eine Alternative auszutesten zu dem Antidepressivum, das ich seit Jahr und Tag gegen meine Schlafstörungen einnahm und nun am Absetzen („Ausschleichen“) bin. Die Technik: mit „Armdrücken“ wurden Ja-Nein-Fragen beantwortet und die hinter einem bestimmten Phänomen stehenden, zu erfragenden seelischen Belastungen zeitlich und thematisch eingegrenzt, bis man auf den Punkt kam. Der Punkt war in meinem Falle eine gestörte Beziehung zur Mutter. Nun, das war mir ja nichts Neues; daß ich sie zeitlebens ablehnte, daß sie in meiner seelischen Landschaft nicht als Mutter einfach nicht existiert, sondern allenfalls als gute Freundin, und auch das Trauma, das dem zugrundelag, waren mir vorher durchaus bekannt. An dieser Stelle verwendete die Kinesiologin ein Verfahren, von dem ich vermute, daß es freie Assozia-tionen bzw. assoziierte Gefühle freisetzen sollte. Ich mußte verschiedenfarbige Brillen aufsetzen, mit meinem Blick der Bewegung ihres Armes folgen und dann sagen, was mir durch den Kopf ging. Es waren 7 oder 8 verschiedene Assoziationen begleitet von heftigen Gefühlen; die Kernaussagen waren folgende: daß ich meine Mutter hasse. Daß ich von ihr nichts an-nehmen will; daß es mein gutes Recht ist, sie abzulehnen. Daß ich mich nirgends zuhause fühle. Und daß ich aus dem Leben strebe (konkret: auf ihre Frage, was ich nun wolle bzw. was mein inniger Wunsch sei – sinngemäß – hatte ich sofort die Assoziation: Kehle durchschneiden).

Hammer! Ist es so? Fehlt mir aufgrund einer mangelnden Tochter-Mutter-Liebe der Halt im Leben? Werde ich aufgrund dieser Tatsache über kurz oder lang den Rückzug aus diesem Leben antreten? Sind meine diesbezüglichen Phantasien etwa mehr als pathetische Spinnereien? Bin ich quasi zum Tode verurteilt, wenn ich es nicht schaffe, dieses Defizit aus dem Weg zu räumen? (Das klingt ja schon wie bei Hellinger!) Wird mich dieser Zombie von einem inneren Kind, nur weil er wütend genug ist, schließlich zur Strecke bringen, wie in meinem Traum? Am besten noch mit meinem Einverständnis, weil: ich möchte ja eh’ sterben?? Bin ich wirklich potentiell so verloren, wie ich mich gelegentlich fühle?

Mein Gefühl sagt: ja. Das Bild ist stimmig. Mein Verstand sagt: weiß nicht. Wer weiß, was für einen Hokuspokus die Kinesiologin da veranstaltet hat? Da ich die Methode nicht durchschaue, zweifle ich auch an den Ergebnissen, d.h. ob da wirklich ein kausaler oder lediglich ein analoger Zusammenhang aufgedeckt wurde, d.h. Gefühle und Assoziationen, die im Raum standen, munter miteinander vermischt wurden. Weiterhin: Solange man zu depressiven Episoden neige, könne man seinen Gefühlen ohnehin nicht trauen; Schwarzseherei und Suizidgedanken seien ja Kennzeichen des Krankheitsbildes.

Nun, das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist noch nicht gesprochen. Die letzte Brille und letzte Assoziation führten in einen Zustand der Verwirrung. Das wurde als ein gutes Zeichen gewertet, das sei der erste Schritt zu einer Veränderung in der Seelenlandschaft. Die Kinesiologin riet mir, an dem Thema zu arbeiten. Das ist auch mein Empfinden, mein Wunsch.
Wie? Keine Ahnung. Ich schaue mir dieses Familien-Aufstellen einmal an. Obwohl ich gegenüber der Methode sehr skeptisch bin. Das Dumme ist, mir fällt bloß keine Alternative ein. Aber vielleicht werde ich ja positiv überrascht.

Grüße, Astarte
 
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