Liebe Reinfriede,
prinzipiell bin ich ein Mensch, der sein Leben VOR sich sieht, dort liegt mein Focus. In der Gegenwart und in der Zukunft.
Im Grunde genommen bin ich das auch. Hätte ich nämlich in
vergangenen wirklich schweren Zeiten keine Zukunftsperspektive
für mich gefunden, dann wäre ich gescheitert.
Ich bleibe nicht in der Vergangenheit hängen, aber die Gegenwart
zeigt mir immer wieder kausale Zusammenhänge auf, gerade wenn
es um die Kinder geht. Wenn ich sehe, welche Hypothek
mein Mann und ich ihnen auf den Weg mitgegeben haben, dann
führt mich das unweigerlich gedanklich zurück in die Vergangenheit.
Nein, ändern kann ich diese natürlich nicht. Aber ich weiß, es wird
der Zeitpunkt kommen, wo die Kinder sich damit intensiv
auseinandersetzen werden. Und dann möchte ich ihnen, wenn sie
es denn wollen, in der Aufarbeitung zur Seite stehen.
Von meiner Mutter habe ich Verdrängungsmechanismen "gelernt",
die ich so niemals weitergeben möchte. Ich weiß aber, dass Du nicht
Verdrängung meinst, wenn Du die Vergangenheit ansprichst.
Vielleicht so besser ausgedrückt:
meine Vergangenheit erklärt meine Gegenwart und ein Stück weit
die Zukunft meiner Kinder.
Kennst Du das Gefühl, wenn man jahrelang auf etwas gewartet hat und es passiert dann plötzlich? Da stellt man völlig erstaunt fest, dass man umsonst gewartet hatte - denn die Erleichterung, das Glücksgefühl ... bleibt aus.
Das kann ich zB so nicht bestätigen. Ich habe unendlich scheinende
Jahre darauf gehofft und gewartet, dass ich wieder Kontakt zu den
Kindern habe. Das Glücksgefühl hat sich dann, als es so weit war, in
noch größerem Maße eingestellt, als ich mir das vorgestellt hatte.
Der zweite ist, dass ich davon ausgehe, dass meine Eltern im guten Glauben gehandelt hatten, alles richtig zu machen bzw. genau nur so handeln konnten, weil sie eine andere Vergangenheit und einen anderen Werdegang als ich gehabt hatten.
Was bitte sollten sie "einsehen"?
Ja, natürlich, auch meine Eltern haben aus ihrem guten Glauben an
die Richtigkeit ihrer Entscheidungen gehandelt. Je mehr ich mich
mit ihren Lebensgeschichten befasst habe, desto mehr habe ich verstanden.
Meine Eltern haben auch nie Fehlentscheidungen im eigentlichen Sinn
getroffen. Wir Kinder hatten eine wohlbehütete Kindheit, für die ich
auch Dankbarkeit empfinde.
Was sie einsehen sollen?
Ich spreche hier die ganz persönlichen zugefügten Verletzungen an.
Für mich ist schon mal das Fehlen von Zugeständnis, dass es diese
überhaupt gegeben hat, nicht nachvollziehbar. Es wird bagatellisiert,
schöngeredet und abgestritten, nur, um sich nachträglich der
Verantwortung zu entziehen. DAS werde ich nie verstehen.
Mir ginge es dabei nicht um das Thema Schuld und Sühne, sondern
um empfundene Reue. Ich persönlich finde, dass das nachhaltige
Bedauern über gewisse Fehlverhalten eine andere - bessere -
Beziehungsqualität nach sich zieht.
Andererseits bietet mir meine Mutter mit ihrem Verhalten eine
Steilvorlage, wie man's eben
nicht macht.
In diesem Sinne: kein Schatten ohne Licht ;--)
Was ich auch tun kann, um die Vergangenheit transparenter zu machen ist, dass ich versuche, in ihren Schuhen zu laufen, um zu verstehen, warum sie so gehandelt hatten.
Ich habe für mich festgestellt, dass das Leben mich hin und wieder
situationsbedingt geradezu zwingt, in ihren Schuhen zu laufen. Meine
Eltern hatten fast idente Probleme mit meinem Bruder wie wir teilweise mit
unserem Sohn. So blieb es nicht aus, dass ich ihre Haltung nachträglich
sehr gut verstanden habe. Da gäbe es natürlich noch mehr Beispiele.
Aber, bedingt durch die schlimmen Kriegserfahrungen, die meine
Eltern machen mussten - und die sie sehr geprägt haben -, kann ich
diese Erfahrungen nicht mal ansatzweise für mich gedanklich simulieren.
Das Trauma nachzuempfinden zeigt mir meine Grenzen auf.
Ich habe meinen Eltern gesagt, sie sollen alles auf den Kopf hauen und ihre Rentenzeit geniessen so lange sie können.
Sicher ist es schön, etwas zu erben...doch nicht um jeden Preis.
Das unterschreibe ich, und das entspricht auch meiner Haltung.
Allerdings habe ich abendsonne nicht so verstanden, dass sie ihrer
noch lebenden Mutter nichts mehr gönnt. Es geht um das Erbe des
verstorbenen Vaters, und daraus juristisch gedeckte Ansprüche zu
ziehen halte ich für legitim.
Aber, auch wenn ich mich wiederhole, kann ich in diesem konkreten
Fall die Sinnhaftigkeit eines Erbstreits, dessen Ergebnis mir keine
nennenswerten Vorteile bringt, nicht erkennen. Sollte es tatsächlich
nur ums Prinzip gehen, dann hält sich mein Verständnis in Grenzen.
Vielleicht kann Abendsonne etwas Licht ins Dunkel bringen.
LG
Lucille